Am Ufer des GuadalimarEin Fluss im Süden Spaniens, ein Nebenfluss des Guadalquivir in Andalusien., am Fuße des Berges AlcarezVermutlich eine Variante von "Alcaraz", einer Bergkette in der Provinz Albacete, Spanien., liegt ein Schloß mit vier spitzen Thürmen, schon von den GothenEin germanisches Volk, das im 5. bis 8. Jahrhundert große Teile der Iberischen Halbinsel beherrschte, bevor die muslimische Expansion begann. erbaut. In einem dieser Thürme war eine Halle, aus deren Fenster seit Monaten Jehudah AbarbanelSohn von Don Isaak Abarbanel, der im Verlauf der Geschichte gefangen genommen wurde und nun in einem Schlossturm gefangen gehalten wird. den Blick nach dem Strome richtete. Aber die Gegend war wie ausgestorben, nur noch einige Gefangene der InquisitionKirchliches Gericht der katholischen Kirche, das in Spanien besonders nach 1478 unter der Leitung von Tomás de Torquemada zur Verfolgung von "Ketzern" und insbesondere von Konvertiten jüdischer oder muslimischer Herkunft eingesetzt wurde. und wenige bewachende Soldaten und LaienbrüderMännliche Mitglieder eines religiösen Ordens, die keine Priesterweihe erhalten haben, aber ein Ordensgelübde abgelegt haben und im Kloster bestimmte Dienste verrichten. schienen die Bewohner des Schlosses, ja der ganzen Umgegend zu sein. Am andern Ufer des Flusses erhoben sich steile Felsen, auf deren Gipfel Adler horsteten. Täglich brachte ein Laienbruder dem Jüngling das spärliche Mahl, alle Versuche Jehudah's, ihn zum Sprechen zu bewegen, waren vergebens, obgleich sein Blick keine Gleichgültigkeit für das Schicksal des Gefangenen verrieth, ja seine Augen öfters mit Thränen auf dem Jüngling ruhten und er sogar sein Verlangen nach einer MandolineEin Saiteninstrument aus der Familie der Lauten, besonders in Spanien verbreitet und mit der spanischen Musikkultur verbunden. erfüllte. Düstere Melancholie ergriff den Jüngling und er wünschte zu sterben. So schauete Jehudah eines Abends durch das Gitterfenster, sanft plätscherten die Wellen des Stromes und schlugen an das hohe Gemäuer, der Mond schwebte hell über dem Flusse und beleuchtete mit seinem magischen Lichte das enge Gemach.

Jehudah ergriff die Mandoline und sang:

Trennung, schwerer Schmerz des Herzens,
Weinen kann mein Aug nicht mehr,
Dulde ich des Schicksals Tücke,
Singe ich der Seele Weh.

Sinken will die Kraft der Jugend,
Sterben will des Jünglings Muth,
Freiheit athmend, Freiheit suchend,
Tief im Innern Liebesgluth.

Ach zerstöret, ach vernichtet
Meiner Kindheit Unschuldswelt!
Und die Blüthen meines Lebens
All' zerknicket, all' verwilket.

Da glaubte er von fern einen in den Wellen schaukelnden Kahn zu erblicken, auf welchem er auch alsbald zwei Männer erkannte, die langsam ruderten und unverwandt ihren Blick nach seiner Zelle richteten. In dem Augenblicke trat der Laienbruder ein. „Eure Rettung ist nahe, Abarbanel" lispelte er ihm zu, „machet Euch eilends auf und folget mir, im Namen des Gottes Israels. Jehudah folgte dem Manne, sie stiegen, von Keinem bemerkt, die schmale Wendeltreppe herunter, die zu einer Pforte führte, vor welcher der Nachen hielt. Der Laienbruder sprang zuerst hinein, rasch folgte ihm Abarbanel, alle drei legten den Finger auf den Mund und bedeuteten ihm Schweigen, und mit der größten Behendigkeit ruderten sie stromabwärts.

Als der Morgen grauete, hielten sie vor einem Felsen. „Jetzt können wir sprechen, Don Jehudah," sagte der Laienbruder, „Ihr seid unter den Eurigen, folget uns in die Höhle der MarannenAuch "Marranen" genannt, waren zum Christentum konvertierte Juden und ihre Nachkommen in Spanien und Portugal, die oft heimlich ihre jüdischen Bräuche weiter praktizierten.." Der Kahn wurde in's Schilf gezogen und die vier Männer traten in die eine Höhle, deren Eingang mit Dornengestrüpp bedeckt war, die glatten Wände waren mit Moos bedeckt, sie erweiterte sich immer mehr und führte endlich in einen großen Raum. Wie erstaunte Jehudah, hier eine Versammlung von mehrern Hunderten zu finden. Ein buntes Gemisch von Leuten aus allen Ständen, Mönche, Soldaten, Bürger, alle aber mit einem weißen Talar verhüllt, der über den Rücken hing und den Kopf vermummte, trauernde Physiognomien, in denen das Weh und der Ernst des Lebens sich ausdrückten, blickten aus dieser Verhüllung hervor. Der Raum war vom Lichte weißer Kerzen erhellt. Auf einem großen Steine, den ein weißes Linnen bedeckte, lagen die Rollen des Gesetzes Mosis, in den Winkeln der Höhle waren Vorhänge von heiligen Laden, goldene und silberne Tempelgeräthe, unzählige Bücher aufgehäuft. Beim Eintritte in die Versammlung riefen die Begleiter Jehudah's: Io ammiHebräischer Ausdruck aus dem Buch Hosea, der "mein Volk" bedeutet. Hier als geheimes Erkennungszeichen der versteckten jüdischen Gemeinschaft verwendet.! Dies war das Wortzeichen der in Spanien zerstreueten Marannen, die zwar äußerlich das Christenthum angenommen hatten, aber im Herzen ihren alten Glauben bewahrten und bei dunkler Nacht ihre Versammlungen in Höhlen und alten Gemäuern tagten, um die Verbindung unter sich aufrecht zu halten. So eben hatten sie das Frühgebet vollendet. Der älteste nahete sich Jehudah. „Don Abarbanel," begann er, Ihr befindet Euch unter Brüdern. Wir haben Euch von Gefangenschaft und sicherem Tod gerettet. Ihr seid der Einzige Eurer Familie, der noch auf spanischem Boden steht. Euer Vater hat glücklich Italien erreicht. Um uns hier im Glauben zu erhalten, bedürfen wir der kräftigen Jugend. Ihr werdet in Spanien bleiben, Ihr werdet Eure Brüder nicht verlassen. Doch bevor Ihr entscheidet, bleibet heute unter uns, wir feiern das Fest des belagerten Tempels." Feierliche Stimmung herrschte in der Versammlung. Einzelne traten hervor und erzählten vom Schicksale ihrer Brüder in den einzelnen Städten. Büchsen wurden herumgetragen und Gelder eingesammelt für Kranke, Unglückliche, Verarmte. Auch Knaben waren da, die den Bund beschwören und erneuen mußten. Ein FranziskanermönchAngehöriger des Franziskanerordens, eines katholischen Bettelordens, der von Franz von Assisi gegründet wurde. Hier handelt es sich um einen geheimen Juden, der als Mönch getarnt ist. war besonders thätig, er war Mitglied der Inquisition, nur um seine Macht zur Rettung seiner geheimen Genossen anzuwenden. Besonders gern pflegten die Marannen das Mönchsthum anzunehmen, weil sie in der einsamen Zelle am ungestörtesten sich dem israelitischen Leben zu widmen vermochten. Dann stellte man sich wieder zusammen und betete und weinte, so daß die Seufzer die kalten Felsenwände hätten erweichen mögen. In Jehudah's Seele stürmten mächtige Gefühle. Er betrauerte diese Verborgenheit, diese Heimlichkeit, aber er fühlte sich zu den Unglücksgenossen hingezogen. Er wurde einer der Ihren, und beschloß den Namen LeonSpanischer Name, den Jehudah als seine neue Identität annimmt. Bedeutsam ist, dass "Leon" (Löwe) im Hebräischen mit "Jehuda" (Juda) assoziiert wird, da der Löwe das Symbol des Stammes Juda ist. anzunehmen. Das ist der Leo HebraeusLateinischer Name für "Jehuda der Hebräer", unter dem Jehuda Abarbanel später bekannt wurde. Der historische Jehuda Abarbanel (ca. 1460-ca. 1523) war ein jüdischer Philosoph und Arzt, der nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 in Italien lebte und dort die philosophischen "Dialoghi d'amore" (Dialoge über die Liebe) verfasste., der die Liebe gesungen und das Leid des Lebens. Als die Nacht wieder anbrach, wurden alle durch einen andern Ausgang der Höhle entlassen, die in ein Thal führte, aus welchem des Weges Kundige sie truppweise entfernten. Der NeumondstagIm jüdischen Kalender markiert der Neumondtag (Rosch Chodesch) den Beginn eines neuen Monats und wird als Halbfeiertag begangen. war zu einer neuen Versammlung bestimmt.