In dem düstern Kerker, auf dem feuchten Strohlager, schmachtete AramaJüdischer Arzt und wichtige Figur in der Novelle. Er ist der Beschützer von Dinah, die im Verlauf der Geschichte eine wichtige Rolle in der Liebesbeziehung mit Alonzo spielt.. Die ehrwürdige Gestalt des Mannes war unkenntlich geworden, erloschen der Glanz der Augen, eingefallen das Gesicht. Nur ein dumpfes Wimmern stieß der Unglückliche von Zeit zu Zeit aus, es waren Angst= und Bußespsalmen, die er heiser absang, aber bald versagte die Schwäche der Stimme oder des Gedächtnisses das Ende des Liedes. Er erwartete den Tod, die zitternde Rechte griff nach der Linken, als wollte sie mit kundigem Takte die schwindenden Pulse der eigenen Maschine erlauschen. Er fühlte, der alte Arzt, immer schwächer werdend, das Zittern seines Herzens, er schauderte vor dem Todesschweiß auf seiner Stirn, die Zunge lechzte nach einem Labetrunk, aber wo war ihm der Tröster, der er Andern so oft gewesen? Dann sank er betäubt zurück, Bewußtlosigkeit umnebelte die Sinne, oder selige Träume umgaukelten den tiefen Schlaf.

Träume! denn bald war es ihm, als stände er auf den Trümmern des Tempels zu JerusalemDer Jerusalemer Tempel war das zentrale Heiligtum des antiken Judentums. Der Erste Tempel wurde von König Salomo erbaut und 586 v. Chr. von den Babyloniern zerstört. Der Zweite Tempel wurde 70 n. Chr. von den Römern zerstört. und hörte das Weinen der Gottheit: Wehe, wehe! daß ich mein Haus zerstöret und meine Kinder vertrieben habe. Oder er betete am Grabe der KönigeEine Nekropole in Jerusalem, die als Begräbnisstätte der Könige von Juda galt. In der jüdischen Tradition ein wichtiger Erinnerungsort., und eine Engelsgestalt nahete sich ihm: Du sollst auf diesen Trümmern nicht beten, Israelit, du sollst nur weinen!

Träume! und er stand an der Wüste, sein Auge suchte nach einem grünen Platze, sein Ohr horchte auf das Murmeln eines Quells, aber vergebens, — da erscheint ein Mann mit strahlendem Antlitz, und schlägt mit dem Stabe in der Hand auf einen hohen Felsen, es quillt Wasser von reinem Krystall, der Lechzende wankt hin, — da steht der Mönch hinter ihm mit verzogenem Gesichte, und hält ihn zurück und zerschellt sein graues Haupt am Felsen, aber die Donner rollen und der Mann mit dem Stabe trägt ihn auf zu den Wolken, die sich lichten.

Er erwacht und der Mönch steht wieder da, in seiner Hand die Kerze, und rüttelt und ruft den Alten, daß er ihm folge. Vergebens reckt er die zerschlagenen Glieder, aber die Gewalt erhebt ihn und man führt Arama vor seine Richter. Sie stehen wieder da im alten Gemäuer und aufgerichtet ist wieder das Kreuz des Glaubens auf dem Tische. Aber auch AlonzoDon Ferdinando Alonzo, ein christlicher Hauptmann, der sich in die jüdische Frau Dinah verliebt hat und deshalb von der Inquisition verdächtigt wird. ist da, von Männern umgeben. Als er den herbeigeführten Greis erblickt, erfüllt sein Schreckenslaut die weite Halle, der Greis blinzt ihn an, und fährt mit der Hand über die Stirn, als wollte er ein Bild der Erinnerung aus dem alten Gehirn hervorlocken.

„Arama," spricht der InquisitorEin Richter der spanischen Inquisition, die 1478 von König Ferdinand und Königin Isabella eingerichtet wurde, um die religiöse Orthodoxie im Königreich zu sichern. Die Inquisition verfolgte besonders Konvertiten, die im Verdacht standen, heimlich jüdische oder muslimische Praktiken beizubehalten., „hier steht dein Ankläger, Don Ferdinando Alonzo. Wagst du noch in seinem Angesicht deine Verbrechen zu läugnen?" Bei diesen Worten bricht Alonzo in Wuth aus: „Henkersbrut! ich durchschaue euch, ich bin kein Ankläger, wer hat diesen Elenden herbeigeführt? Arama, ich dein Ankläger?! glaub's den Verworfenen nicht!"

„Schweig', KetzerAbwertende Bezeichnung für jemanden, der von der offiziellen Lehre der Kirche abweicht. In der Zeit der Inquisition war dieser Vorwurf besonders gefährlich und konnte zur Verfolgung, Folter und Hinrichtung führen.!" rief ihm der Inquisitor zu, „oder dein Schicksal wird das des Juden sein."

„Sei mein Schicksal tausendmal härter, Mönche, ihr könnt mich tödten, aber mein Leben nicht mit Verrath beflecken!"

Der Inquisitor erhob seine donnernde Stimme: „Wirst du deine Aussage, Christ, nach der Buhlschaft einer elenden Jüdin gestrebt zu haben, zurückrufen, oder wirst du, Jude, deine Schandthaten läugnen, so soll dem Hauptmann die Neue im tiefsten Kerker eingeflößt werden, der Jude besteigt mit seiner Tochter den ScheiterhaufenHolzstoß, auf dem zum Tode Verurteilte bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Eine besonders grausame Hinrichtungsmethode, die die Inquisition für Ketzer, Hexen und andere "Feinde des Glaubens" anwandte.!"

Diese Worte verfehlten ihren Eindruck nicht. Alonzo schwieg; der Mönch hatte den rechten Fleck seines Herzens getroffen; er schauderte zurück.

Arama sah auf mit scheuem Blicke. „Ehrwürdige PatresLateinisch für "Väter", eine respektvolle Anrede für Ordensgeistliche, besonders in der katholischen Kirche., ich bin zum Tode bereit. Ach, es ist wahr, was ihr saget, ich habe mein ganzes Leben euch gehaßt, es ist wahr, ich habe euch geflucht, ich habe euch noch im Kerker geflucht. Es ist wahr, eure Gottheit ist nicht die, die ich verehre, sie ist nicht die Liebe, sie ist nicht die Barmherzigkeit, denn — hier lächelte er wild — sie hat nur Gefallen an dem Tode des Sünders. Ich bin ein alter, grauer Jude, ich habe schon gesündigt im Mutterleibe, ehrwürdige Patres, ich habe mein Leben lang gesündigt, denn — mit aller Kraft schrie er hier auf ich habe gebetet, daß euer Haupt alle Verwünschungen treffen. Straft mich, ehrwürdige Patres, ich verdiene es, aber euer Zorn treffe nicht das Mädchen, es ist ein theures, mir anvertrautes Gut, auch nicht den Jüngling dort, denn er ist ein rechtgläubiger Christ. Nun, macht's kurz, denn sonst kommt der Tod von selbst. Ich bin ein alter Arzt, ich kenne ihn, ich habe ihm oft genug scharf in's Auge gesehen."

Die Kräfte versagten ihm, er fiel zurück, und suchte vergebens sich aufzurichten, er stützte die eine Hand auf den kalten Erdboden und zeigte mit der andern um sich herum. Phantasieen des Sterbenden erfaßten seine Sinne. „Seht da den Glanz," sprach er hastig, „Himmel, EliasEin bedeutender Prophet im Tanach (Hebräische Bibel), der der Überlieferung nach nicht starb, sondern in einem feurigen Wagen in den Himmel aufstieg. In der jüdischen Tradition wird er als Vorbote des Messias angesehen.! Elias, nimm mich in deinen Mantel, in deinen Sternenmantel, Prophet! Elohe abiHebräisch für "Gott meines Vaters", eine Anrufung Gottes., meine Seele schmachtet nach dir, — Elias, dort steht das Kreuz der Ungläubigen, schmettere es nieder! Er naht, er naht, der Bote des Herrn, gesegnet dein Eingang! NissaVermutlich eine verstorbene Angehörige Aramas, möglicherweise die Mutter von Dinah., Nissa, dort ist deine Tochter, reiße sie weg vom Kreuze, die schwarzen Mönche wollen die Tochter Israels schänden! — Ich bin ein alter, grauer Jude, ehrwürdige Patres! — TisbiteEin Beiname des Propheten Elias, der aus der Stadt Tischbe stammte., der Tag des Herrn ist nicht mehr fern, HosiannahHebräischer Jubelruf, der "Rette doch!" oder "Hilf doch!" bedeutet und als Ausdruck des Lobes und der Freude verwendet wird., Hosiannah, jetzt sind sie fort, die Mönche. Israel, dein Gott ist ein einziger, einziger!"

Alonzo trat hinzu, er erhob den sterbenden Greis von der Erde und hielt ihn in seinen Armen, seine Thränen fielen auf das erloschene Auge. Die Mönche standen stumm.

„Gieb mir meine Enkel wieder," stammelte der Greis, „führe sie her, Christ, daß ich meine Hände auf sie lege und sie segne. Was wollt Ihr hier, Don Alonzo, hier ist des Todes Gruft, es ist kalt und schauerlich im Kerker."

„Euren Segen, Arama," stammelte Alonzo, „ich bin unschuldig an Eurem Unglück."

Der Alte streckte die Hand aus, aber sie fiel ermattet auf Alonzo's Schulter: „EsauIn der Bibel der ältere Zwillingsbruder von Jakob. Esau verkaufte sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht. Hier als Metapher für jemanden, der sein spirituelles Erbe aufgegeben hat., ich habe für dich keinen Segen mehr, du hast die Erstgeburt des Herrn verscherzt."

Jetzt zeigte des Gesichtes Zucken den letzten Todeskampf, aber noch einmal verklärte sich der Blick des Sterbenden, und in den letzten Augenblicken kehrte das reine Bewußtsein zurück. Seine letzten Worte begleiteten den Geist nach Himmelshöhen. „Mein König und Vater, im Himmel und auf Erden gebenedeiet sei dein Name und die Herrlichkeit deines Reiches auf ewige Zeiten, deine Gnade komme zu uns und segne meinen Ausgang, mache rein meine Seele durch's Verzeihen meiner Sünden, deine Gerechtigkeit walte über Israel, Amen."

Arama war verschieden. LaienbrüderMännliche Mitglieder eines religiösen Ordens, die keine Priesterweihe erhalten haben, aber ein Ordensgelübde abgelegt haben und im Kloster bestimmte Dienste verrichten. trugen die Leiche und verscharrten sie im nahen Gebüsche, kein Stein bezeichnet die Grabstätte des Arztes Aramaz doch er ruhet nicht minder sanft von seiner langen Pilgerung aus.

Als wäre nichts vorgefallen, richtete jetzt der Inquisitor seinen Blick auf Alonzo, er forderte ihn auf zur reuigen Bekehrung seiner Sünden, er hielt ihm den Verdacht des heimlichen Judenthums vor, von dem er sich zu reinigen hätte, wenn er nicht die Strafe des Gerichtes auf sich ziehen wollte. Alonzo sah ihn bitter an.

„Pater Inquisitor, es ist jetzt schlimm, Jude zu sein, aber wahrlich noch schlimmer fast Christ. Ich kenne das Verbrechen nicht, das mich hierher geführt. Ist es nur die Liebe zu der reinen Jungfrau, die ich anbete, und die in dem Greise hier ihren Beschützer verlor, so bin ich mit meinem Sündenbekenntniß zu Ende und Ihr kennt es schon. Alonzo wurde noch einmal befragt, in wie weit DinahDie jüdische Frau, in die sich der christliche Hauptmann Alonzo verliebt hat. Diese verbotene Liebe zwischen verschiedenen Religionen ist ein zentrales Motiv der Novelle. seine Liebe erwiedert hätte, ob er Versuche gemacht, sie zum Christenthum überzuführen, nach seinem Verhältniß zu AbarbanelDon Isaak Abarbanel (1437-1508), jüdischer Staatsmann, Philosoph und Bibelkommentator, der tatsächlich am Hof Ferdinands und Isabellas diente und sich nach dem Vertreibungsedikt von 1492 für seine Glaubensgenossen einsetzte. In der Novelle eine wichtige historische Figur., und dann trotz seinem dringenden Verlangen nach Freiheit von Neuem in's Gefängniß geführt.