In einer entlegenen engen Straße der belagerten Stadt saß in einem kleinen Zimmer des untersten Stockes eines alten Hauses der ehrwürdige Nissa. Ärmlich, aber reinlich und sauber sah es im Gemache aus, so daß der Fremde beim ersten Eintritt die häusliche Sorgfalt eines weiblichen Wesens erkennen konnte. Das Estrich des Bodens war glänzend weiß, die Wände des Zimmers schienen mit altem Stuck bedeckt, auf dem man verblichene Figuren in Form von Arabesken sah, von der Decke hing in der Mitte eine blinkende, metallene, siebenarmige Lampe herab. Der Schrein mit geschnörkelten Füßen schien die wenige Wäsche und Habseligkeiten der Inwohner zu enthalten, unter ihm waren Pergamentrollen und einige Folianten aufgestellt, denn die Seltenheit und Kostbarkeit der Bücher zu jener Zeit machte den Besitz derselben zu einer Seltenheit. Auf einem Divan mit rotem Velours bedeckt lag die reizende achtzehnjährige Dinah, ausruhend von den Schrecken und Unruhen der vergangenen Nacht, doch mit zärtlicher Aufmerksamkeit auf den geliebten Vater schauend, der im Lehnstuhle vor dem mit Büchern bedeckten Tische saß.

Sein Haar hatten die heiligen Übel des Lebens früh gebleicht, seine Augen waren blöde von emsigen Studien, sorgenvollen Nachtwachen und Thränen des Elends, und dennoch die Stirn fast ohne Falten, der ganze Ausdruck des Gesichtes innern Seelenfrieden verkündend, so daß der lang herabhängende Bart den Eindruck der Ehrwürde vollendete, den die Erscheinung des hochgewachsenen Mannes machte. Man mochte ihn für einen Greis in noch männlicher Kraft halten, obgleich er noch nicht sechzig Jahre zählte.

„Du bist ermüdet, meine Tochter," sprach er gütig zur Jungfrau, „der Lärm der vergangenen Nacht hat dein junges Gemüth erschüttert, obgleich wir des Sturmes um uns her schon gewohnt sein sollten. Furchtbar ist's, wenn IsmaelHier eine Metapher für die Muslime, basierend auf dem biblischen Ismael, Sohn Abrahams und traditionell als Vorfahre der Araber angesehen. mit EsauHier eine Metapher für die Christen, basierend auf dem biblischen Esau, Bruder Jakobs (Israel). krieget, furchtbarer noch, wenn sie ruhen und Israel ihre Muße empfindet. Mir sind solche Kriegsauftritte nichts Neues, meine Tochter, ich habe deren schrecklichere erlebt. Deutschland ist mein Vaterland, an den Ufern des Rheins durchlebte ich meine Kindheit, da brachte jeder Tritt Gefahr, denn die Beute des Kampfes der Edlen war der Gemeine. Als Jüngling durchwanderte ich das Morgenland, das heilige Land unserer Väter war das Ziel meiner Reisen, auf den Trümmern des Tempels wollte ich beten, aber zum Gebete war dort keine Stätte, wilde arabische Horden verscheuchten den Pilger und vergönnten ihm die Thräne nicht, die er dem Unglück seines Volkes weinen wollte. Ich kehrte zum Vaterland zurück, ich lernte deine Mutter kennen, du wurdest unsers bedrängten Lebens Freude. Und der Glanz unserer Schulen am Euphrat und Tigris hatte sich nach Westen in dies gesegnete Land gezogen, hier sollte des Wissens Durst Befriedigung finden, hier sollte man der heiligen Beschäftigung mit dem Worte des Herrn ungestört, und in Ehren leben können, – ich nahm mit Weib und Kind den Wanderstab nach SephradHebräischer Name für die Iberische Halbinsel, oft verwendet, um auf die sephardischen Juden zu verweisen.; sechszehn Jahre bin ich hier; die wilde Taube hat ihr Nest, der Fuchs seine Höhle, der Mensch sein Vaterland – Israel nur das Grab. Noch hat der Zorn des Herrn von seinen Söhnen nicht nachgelassen. Auch hier ist's vorbei mit unserer Ehre, mit unserer Ruhe, wenn das Kreuz sieget."

Er stand jetzt auf und blickte aufwärts: „Selima, verklärte Selima, ich habe dein Kleinod bewahrt, mehr wie den Apfel meines Auges: das ist der herbste Schmerz, mein Kind darben zu sehen!"

„Vater," sagte jetzt Dinah sanft mahnend, „vergäßest du das Wort des Psalmisten: „Ich bin jung gewesen und auch alt geworden, doch nie sah ich den Gerechten verlassen und sein Kind Brod suchen," und das des Propheten: „Kann die Mutter vergessen ihres Säuglings, daß sie sich ihrer Leibesfrucht nicht erbarme? vergäße sie sein, ich will dein nicht vergessen!" Sie erhob sich und umschlang mit ihren vollen zarten Armen den Hals des Vaters: „Entbehrung, Vater, ist das Loos des Israeliten, die Leiden der Erde müssen gelitten werden und reißen sie auch unsere schönsten Blüthen hinweg. — Sieh, wie die Morgensonne so schön in unsere bescheidene Klause scheint."

„Sie beleuchtet die blutige Erde von erschlagenen Menschenkindern, aber auch das Schauspiel kindlicher Liebe und menschlicher Demuth, Hallelujah!"

Und das Antlitz ihren Strahlen zukehrend, verrichteten beide still und andachtsvoll ihr Morgengebet.

Diese feierliche Ruhe eines geweiheten Stilllebens wurde durch das Getöse unterbrochen, welches in den Straßen Granada's laut wurde. Der Gewinn des nächtlichen Ausfalles war ein bedeutender Transport Lebensmittel, BoabdelinAuch bekannt als Boabdil oder Abu Abdullah Muhammad XII., der letzte nasridische Emir von Granada. ordnete selbst die Vertheilung an, aber auch die Gegenwart des erhabenen Beherrschers der Gläubigen konnte die Unordnung der verhungerten Menge nicht hemmen, die gierig auf die Beute sich warf und die vergebens von den Gewehrkolben der Soldaten abgewehrt und von den Großen zur Ruhe gemahnt wurde. Die nicht unbedeutende Menge jüdischer Glaubensgenossen in Granada wäre aber schon längst dem Hungertode verfallen, wenn nicht die Vorsorge ihrer Aeltesten bei Zeiten das Uebel vorausgesehen und in den Räumen ihrer Synagogen und Schulen, ja selbst auf den obersten Böden derselben der Lebensmittel beträchtliche Menge aufgehäuft hätte, mußte es sich sogar die heilige Lade gefallen lassen, anstatt der Gesetzesrollen Brod aufzunehmen. Der Armenvater der Gemeinde versorgte die Darbenden, und man hatte die Gewißheit, noch geraume Zeit Vorrath zu besitzen. Auch stellte man zum Schein bei jeder öffentlichen Brodvertheilung zerlumpte Juden hin, die anscheinend betrübt nach Hause gingen, wenn man ihnen anstatt Brod Hohn und Spott ertheilte. Aber dennoch fiel es dem Pöbel endlich auf, die Juden in sorgloserer Ruhe und weniger am Mangel leiden zu sehen. Der Sieg in der vergangenen Nacht erregte in der unerfahrnen Volksmasse von Neuem den Uebermuth, und man schickte sich an, die Quellen zu erspähen, aus denen den Juden hier wiederum das Manna in der Wüste kam.

Eben wendete sich ein Gemeindediener um die Ecke der Straße, in welcher Nissa wohnte, unter dem weiten Mantel verbarg er die Gabe, die er dem obgleich von Geburt fremden, doch wegen seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit geehrten Manne bringen wollte, als ein Haufe des niedrigsten Pöbels ihn anfiel und zuerst die Hälfte, dann das Ganze des Verborgenen mit lauter Stimme forderte.

„Ich bringe es, liebe Leute, einem alten Manne und Lehrer der Gemeinde, der KadiEin islamischer Richter, der nach der Scharia Recht spricht. hat es mir selbst für ihn gegeben, ich bitte euch, lasset ab und ladet den Zorn des obersten Gottes nicht noch mehr auf euch. Aber immer wüthender wurde das Geschrei, ein Maure der untersten Klasse schwenkte den krummen Säbel über des Zitternden Haupt, ein anderer griff nach der Beute. Da stürzte Dinah aus dem Hause, gefolgt von dem ängstlich rufenden Vater; schnell wendete sie sich zum Bedrängten, ihre blendende Schönheit und unerwartete Kühnheit machten die Verfolger stutzend, sie ergriff die Gabe, hielt ein kleines Brod fest im Arme und warf das Uebrige weit unter die Menge, den Diener mit sich in's Haus ziehend. Da stürzten sie untereinander wie hungrige Wölfe über das Brod her, sich selbst verfolgend und schlagend, während Nissa mit dem Gemeindediener und der Tochter in's Haus zurückkehrten, das sie verschlossen.

„Seit Jerusalems Belagerung," begann der jetzt beruhigte Almosenträger, „hat man solche Greuel nicht gesehen, ehrwürdiger Nissa! Wahrlich, wäre ich Euch nicht durch den Unterricht, den Ihr meinem Sohne ertheiltet, dankbarlich verpflichtet, ich hätte den Gang zu Euch nicht gewagt. Das war der dritte Haufe, der mich beunruhigte. Wie wird das enden? Hat man erst unsere Vorräthe erspähet, so ist die Gemeinde verloren!"

„Der Herr wird Israel retten aus aller seiner Noth;" erwiederte Nissa tröstend. „Besser wäre es uns hier umzukommen, als in die Hände der Christen zu fallen."

„Ihr habt eine wunderbare Tochter, Vater Nissa! Ist sie zwar deutscher Herkunft, so überstrahlt sie doch Sephrads Töchter an Anmuth und Tugend. Tochter! du übest das süßeste und schwerste Gebot, du ehrest deinen Vater, und so wird es deinem Leben an Freuden nicht fehlen, denn die Verheißung trüget nimmer. Aber hört! das Geschütz der Spanier beginnt das ernste Spiel wieder. Wahrlich, Esau ruhet nimmer!"