Dinah befand sich in der Familie des ehrenwerthen Arztes Arama. Dieser gelehrte Mann hatte sich ehedem gern mit dem N. Nissa und seiner geistreichen Tochter unterhalten, auch sie hörte ihm gern zu, wenn er von seinen weiten Reisen in der Wüste Arabiens, in den Gefilden am EuphratEin Fluss in Vorderasien, der zusammen mit dem Tigris Mesopotamien begrenzt. und TigrisEin Fluss in Vorderasien, der zusammen mit dem Euphrat Mesopotamien begrenzt., in den Ruinen des alten HellasAntiker Name für Griechenland. erzählte und mit dem eigenen Reize seiner lebhaften Sprache seine Abenteuer in allen diesen Gegenden schilderte. Solche Reisen waren für die Jünger des AesculapDer griechische Gott der Heilkunst, hier als Metapher für Ärzte verwendet. damals die Bildungsschulen ihrer Kunst, sie lernten hier von Zigeunern, Quacksalbern, Hirten die Tränke und Mixturen bereiten, womit die Uebel des Lebens zu heilen wären, sie verschafften sich Kenntniß von den Sitten und der Lebensart der Völker und hatten Stoff genug, sich im Vaterlande mit dem Reize des Geheimnißvollen und Wunderbaren zu umgeben, der bei der Ausübung der Heilkunst dem Künstler und Bekünstelten förderlich ist.

Aber — so wenig vermag der Mensch, der Freigeborne, sich von den Fesseln seiner Zeit und seiner Umgebung zu befreien — weder die Helle, welche das Studium der Natur, noch die Erfahrung, welche die Welt sie lehrte, verliehen den Jüngern des Aesculap ein Jota Aufklärung mehr. Sie waren von den Vorurtheilen ihres Jahrhunderts, von den Mystificationen religiöser Sektirer, von dem Aberglauben der Masse eben so wenig frei, als die meisten ihrer Patienten, und so fand man den christlichen Arzt eben so häufig beim Rosenkranze, als den jüdischen bei dem Gebetriemen und dem gewissenhaften Beobachten aller religiösen Ceremonien, höchstens daß der muhamedanische seines AlkoransDer Koran, das heilige Buch des Islam. vergaß und das Trinken des XeresEin spanischer Wein, bekannt als Sherry. mit dessen Kraft als Arznei entschuldigte.

Mit ungewöhnlicher Erfahrung in seiner Kunst verband daher auch Arama eine kindliche Frömmigkeit und religiöse Kleingläubigkeit, und bei allen Fällen praktischer Beschäftigung vergaß er den TalmudEine Sammlung rabbinischer Diskussionen zum jüdischen Gesetz, der Ethik, Philosophie, Bräuchen und Geschichte. nicht und betrachtete ihn als die reichhaltigste Quelle alles körperlichen und geistigen Heils, als eine Bibliothek für Gesunde und Kranke, wenn auch der heidnische GalenEin bedeutender griechischer Arzt des Altertums, dessen Lehren bis in die Neuzeit einflussreich waren. in der arabischen Uebersetzung meistens den Ausschlag für sein Thun und Treiben am Krankenbette gab. Stellen wir uns bei dieser Eigenthümlichkeit den sechszigjährigen Arama mit dem Turban von rother Wolle, mit dem langen persischen Oberkleide, vorn offen getragen, aus schwarzer Seide, unter dem er ein griechisches baumwollenes und durch einen rothen Gurt zusammengehaltenes Unterkleid trug, vor, mit seinen links und rechts herumblickenden großen Augen, gebogener Nase, kleinem Mund und spitzem Kinne, an dem der Bart nicht fehlte — an den langen Fingern der zarten weißen Hände köstliche Ringe, Geschenke reicher Geheilten, — so haben wir das Bild des Mannes, dem die schöne Dinah eben so willkommen wegen ihrer rühmlichen Eigenschaften, als wegen des Kostgeldes, das der große Abarbanel für sie zahlte, war.

Was diese Vortheile noch überwog, war die Hülfe, die ihm ihr gebildeter Geist bei der Erziehung zweier Enkel leisten konnte, eines liebenswürdigen siebenjährigen Knaben und fünfjährigen Mädchens, die als die Kinder einer geliebten Tochter ihm von seiner ganzen Familie übrig geblieben waren; denn die Tochter war in der Geburt des jüngsten Kindes gestorben, ihren Gatten hatte die pestartige Krankheit während der Belagerung dem Großvater und den Kindern entrissen. Dinah nahm sich mit aller Sorgfalt der verwaisten Pfleglinge an, die freudevolle Beschäftigung mit dem blondgelockten Joseph und der naiven brünetten Sara machte sie, wo möglich, noch liebenswürdiger, und sie vergaß zwar nicht des verewigten Vaters, dennoch aber war diese häusliche Strebsamkeit und die Güte, mit der sie der alte Arzt behandelte, lindernder Balsam für ihren Schmerz. Was ist schöner und wo zeigt sich der Mensch dem ewigen Urbilde aller Größe, der Vorsehung, ähnlicher, als wenn er Bildner junger Seelen wird und hier uneigennützig eine Saat streuet, für deren Aufkommen der Vater im Himmel sorgen muß, deren Früchte aber andere genießen; oder was ist ehrwürdiger, als dem müden Alter Trost und Erquickung zu reichen und dem von den heißen Sandsteppen des Lebens ermüdeten Fuße des Greises das sanfte Polster kindlicher Theilnahme unterzulegen. Glückliche Dinah, die du die eine Hand dem aufblühenden, die andere dem welkenden Menschen reichest!

Auch würde ich meinen Lesern die Wahrheit verhehlen, wenn ich nicht bemerkte, daß die durch Arama's bescheidenen Wohlstand und Abarbanel's Freigebigkeit bereitete größere Bequemlichkeit im Hause des Arztes ihr zusagte, ihrem Körper die völlige Entwickelung, ihrem, Geiste freie Beweglichkeit verschaffte. Sind doch einmal diese kleinen Bedürfnisse, die wir uns schaffen und mit denen wir uns umgeben, höchst nothwendige Erheiterungs= und Erfrischungsmittel für den gebildeten Geist. Freuen wir uns daher mit unserer Schönen über die großen blinkenden Glasscheiben, an die sich oben gemalte anschließen, die ein buntes Licht auf den musivisch ausgelegten Fußboden werfen, durch die man aus gewölbten Bogenfenstern auf die belebteste Straße Granada's hinabsah, über den zierlichen Divan in demselben maurischen Geschmacke, den jetzt unsere Mode hervorsucht, über die im Zimmer hängenden Gemälde aus der Geschichte Joseph's und den Schrein aus Sorbenholz, in welchem die Andenken der weiten Reise Arama's geordnet und zierlich geschriebene und gedruckte Bücher liegen, endlich über die erfrischende Kühle, die der Altan auf dem Plattdache des Hauses am Abend darbietet, wo das blaue Segeltuch des Himmels mit glänzenden Sternen durchwirkt sich über die Sitzenden wölbt und mehr als das frohe Gewühl auf den Straßen das Auge auf sich zieht. — Doch es ist Zeit, den Faden der Geschichte wieder aufzunehmen.

Alonzo wollte an dem Tage, wo wir ihn von den Trümmern von IlliberisEine antike römische Stadt in der Nähe des heutigen Granada. heimkehrend verließen, seinem Vorsatze getreu, sich in die Wohnung Dinah's begeben, als ihn der Befehl seines Hauptmanns zum Dienste im Palaste schleunigst beorderte. Einen peinlichen Tag und eine lange Nacht brachte er dort zu und erst am andern Tage war es ihm vergönnt, seine Sehnsucht zu befriedigen, und ohne erst den Freund aufzusuchen, begab er sich nach Dinah's Wohnung. Wie erstaunte er, als man ihm dort sagte, daß, nachdem gestern ein alter Herr die junge Jüdin besucht hätte, sie heute früh die Wohnung geräumt, wohin wußte man nicht, — er stand an der Schwelle des leeren Gemaches und mit unstätem Blick sah er das Zimmer an, in welchem sie gewohnt und geweint hatte, mit Hast griff er nach einem in der Ecke liegenden, wahrscheinlich verlornen Papiere, auf welchem ihm unverständliche hebräische Schrift stand, froh eine Gelegenheit zu einem neuen Besuche zu haben. Er eilte zum Freunde, den er nicht zu Hause traf. Sein unruhig pochend Herz trieb ihn durch alle Straßen Granada's und immer wieder zur Wohnung Jehudah's zurück, er zürnte zum ersten Male dem Freunde, und vergaß — wie es bei dergleichen Gelegenheiten so oft zu geschehen pflegt — das Nächste, zu seiner eigenen Wohnung zurück zu kehren, wo ihn seit mehreren Stunden Jehudah von der Wacht erwartete. Endlich trafen sie beide zusammen.

„Beim Himmel, Alonzo, wenn Seine Majestät der König Ferdinand so lange schläft, wie du bei ihm wachest, würde es schlecht um Aragonien stehen. Seit zwei Stunden erwarte ich dich vergebens in deiner Behausung, und saß wie auf Kohlen.“

„Und wenn, du so lange wartetest, wie ich nach dir herumgelaufen bin, so würde der Kohlensitz dir schlecht bekommen sein und ich hätte einen gerösteten Freund, anstatt ich jetzt den blühenden küsse.“ Sie umarmten sich.

Bald hatte Jehudah dem aufmerksamen Freunde von der Veränderung erzählt, die sein Vater in höchst eigener Person mit ihrem Schützlinge getroffen, von dem Interesse, welches sie bei demselben erregte und von der Aussicht, sie späterhin in dem eigenen Hause zu sehen. Die Unbefangenheit des Erzählers ließ nicht ahnen, daß ein lebhafteres Gefühl bei ihm Wurzel gefaßt hätte und in der That war Jehudah's Gemüth fast zu kindlich, als daß sein Interesse jetzt schon als wirkliche Liebe anzusehen gewesen wäre. Alonzo wurde durch des Freundes Erzählung freudig gestimmt, war es — denn so egoistisch ist selbst der edelste Mensch — die Sicherheit, die er von Jehudah's Seite für seine eigenen Empfindungen fand? — Beide standen im Gespräch begriffen, ehe sie sich dessen versahen, vor der Thür des alten Arama und so eben erinnerte sich Alonzo des gefundenen Papieres. Beide Freunde traten, durch eine alte DuennaEine ältere Frau, die als Anstandsdame oder Gouvernante für junge Frauen in spanischen oder portugiesischen Haushalten diente. gemeldet, in das Zimmer ein, wo Dinah dem kleinen Joseph, ihn mit ihren Schwanenarmen umfassend, ein arabisches Mährchen erzählte. Als sie die Jünglinge begrüßt hatte, vertröstete sie den kleinen Bittenden mit der Weitererzählung bis zum Abende.

„O erzähle weiter, liebe Schwester,“ — denn diesen Namen hatte ihr Jehudah schon am gestrigen Tage in aufwallender gemüthlicher Laune und rascher Vertrautheit gegeben, sie nicht ungern angenommen, — „ich höre die Kindermährchen gar gern, besonders aus so schönem Munde. Erinnere ich mich doch mit Vergnügen der alten Duenna in unserm Hause zu Lissabon, wenn sie, mich wilden Burschen auf dem Schooße, von der Prinzessin Zerura erzählte und ihren drei schönen Kindern im Schlosse am TejoDer längste Fluss der Iberischen Halbinsel, fließt durch Portugal und Spanien..“

Aber Joseph wehrte mit seinen Händchen ab und wollte, nach ächter Kinderweise, Keinen zuhören lassen und lieber bis zum Abend warten. Alonzo übergab Dinah das Papier, erröthend stattete sie ihm Dank für das Unbedeutende ab, dessen Bewahrung Beweis seiner Aufmerksamkeit für sie war. Das Gespräch gleitete nun über das neue Verhältniß Dinah's, das sie reizend genug schilderte, Jehudah holte die Mandoline von der Wand, um den Freund die helle Stimme und den herzergreifenden Gesang seiner neuen Schwester hören zu lassen, Jeder Tön fand einen Wiederklang in den gespannten Saiten von Alonzo's Herzen, während Jehudah in possirlicher Stellung vom Anfange der spanischen Romanze an die Hände zum Klatschen bereit hielt und dann am Ende sein Bravo mit denselben begleitete. Dinah zeigte den Freunden die schöne Aussicht vom Altan, terrassenförmig erhoben sich weithin die grünen Weinberge, über die im Hintergrunde die waldumkränzten AlpuxaresAuch als Alpujarras bekannt, eine Bergregion südlich von Granada. majestätisch herüberblickten. Sie wurden gestört durch die Ankunft Arama's, der mit Schweiß und Staub bedeckt, seufzend von dem beschwerlichen Amte zurückkehrte und ehrerbietig den königlichen Offizier als Freund Jehudah's begrüßte, bald aber sich in den Strom der Rede ergoß.

„Ich bin weit in der Welt gewesen, junge Herren, ich wanderte drei Tagereisen durch die Wüste nach den Pyramiden MizraimsBiblischer Name für Ägypten., und nach den Trümmern von RhamsesEine antike Stadt in Ägypten, die laut biblischer Überlieferung von den Israeliten erbaut wurde., das die Kinder Israels gebaut haben, ich habe die Wüste, wo Moses unsere Vorfahren vierzig Jahre führte, in zehn Tagen durchwatet, ich wallte ein Jahr lang jeden Tag nach Jerusalem, um in der heiligen Stadt mein Gebet zu verrichten, aber damals war ich jung — jetzt wird mir der Gang durch die Straßen Granada's schon sauer — die zweibeinigen Muskeln da unten trocknen immer mehr zusammen, — Assjah dechikah ene awer, sagen unsere Weisen: ein gedrückter Arzt hat blinde Augen, das will so viel sagen, meine Herren, wenn man sich selbst nicht mehr helfen kann, wird's schwer, Anderen zu helfen.“

„Darum wär's wohl besser, lieber Arama, Ihr setztet Euch zur Ruhe und genießet der Früchte Eures thätigen Lebens,“ meinte Dinah, dem Alten Wein und Backwerk bringend und ihn zum Divan ziehend.

„Ei, meine Tochter, zur Ruhe! wer wird ruhen, so lange noch eine Drachme Mark in den Knochen ist, da hieße es ja mit Recht von mir, was unsere Weisen sagen: tob scheberosim lagehenim, der beste unter den Aerzten sei der Hölle werth.“

„Ein harter Ausspruch und schlechter Trost für die Schüler Galen's,“ meinte Jehudah schalkhaft.

„Für die schlechten, lieber Sennor, für die schlechten, denn die klugen Weisen wollten damit nur sagen: wenn der Arzt auch noch so sehr seine Pflichten thut, so kann er doch leicht etwas versehen, oder kann einmal, von der Liebe zur Bequemlichkeit verleitet, den preßhaften armen Kranken ein Stündchen zu lange warten lassen, und da kann es schon einige derbe Hiebe in der Gehenna mehr abgeben. Die Pflichten sind groß.“

„Oder er kann,“ setzte Jehudah fort, „einmal für ein bitteres Kraut ein Paar MaravedisEine alte spanische Münze von geringem Wert. zu viel abnehmen; ich rede ohne Bezug, lieber Arama.“

„Schadet nichts, mein Sennor,“ erwiederte der Alte, indem er sich bequem auf dem Divan ausstreckte, das Glas Wein in die Hand nahm und nach seinem Segensspruch langsam herunterschlürfte. „Schadet nichts, da sagen unsere Weisen wieder; Assjah demagan magan schawch, der Arzt, der umsonst curirt, wird für nichts gehalten. Glaubet mir, eine Hauptregel zum Prosperiren: je theurer die Mixtur, desto mehr hilft sie, je billiger der Arzt, desto eher wird er für einen Stümper gehalten. Nicht die da roth werden, wenn man sie bezahlt, nein, die es werden, wenn man sie nicht bezahlt, sind die gesuchten Aerzte. Ich bin ein alter Praktiker, ich war in Griechenland, da geht der Kassirer gleich mit dem Säckel hinter her, je voller der Säckel, desto williger wird er gefüllt.“

Die Kleinen sprangen auf den Großvater los, der sie herzlich küßte, ihnen von seinem Backwerk mittheilte und liebevoll zu Dinah aufschauete, die an der Ecke des Divans stand.

Alonzo schauete gerührt auf die Gruppe und besonders auf Dinah, deren Blick sich senkte, wenn er dem Alonzo's begegnete. Jehudah fuhr mit den Fingern durch die Saiten der Mandoline.

„Der Junge soll Arzt werden, Sennor,“ fuhr der Alte fort, die Locken Josephs herunterstreichend, „in zwei Jahren fängt er den Talmud an, in vier den Galen, mit Talmud und Galen kommt man durch die ganze Welt.“

Die beiden Freunde nahmen die Einladung zum Mittagsessen an. Jehudah saß dem Arzte gegenüber, Alonzo der Dinah, an den beiden Enden des Tisches saßen die Kinder. Das Sprechen hielt natürlich am Alten, der in jovialer Laune von seinen Reisen erzählte, seine Worte mit kernhaften talmudischen und biblischen Sprüchen durchspickend; nach Tische mußten beide Kinder ihren Tischsegen beten, während der Alte seinen eigenen hersagte und dabei mit schmunzelndem Gesichte bald auf Dinah, bald auf Jehudah blickte, als entstände in ihm ein Gedanke, der sie beide näher beträfe. Die im Vorsaal sich drängenden Kranken, die begierig auf den jüdischen Aesculap warteten, erheischten Arama's Entfernung, und die Schicklichkeit hieß endlich auch die Jünglinge sich verabschieden, die vom Alten recht herzlich um baldige Wiederholung ihres Besuchs gebeten wurden.