Ich stand auf der Akropolis Athen's. Um mich die Trümmer einer schönen, untergegangenen Welt. Aber von der einen Seite brauste drunten die Brandung des Meeres an dem ewigen Felsen; von der andern schaute ich über die Stadt, die langsam wieder aufersteht aus den Ruinen, welche eine alte zurückgelassen. Mein Auge hing an den Hügeln des HymettusEin 1026 Meter hoher Gebirgszug im östlichen Teil von Attika, berühmt für seinen Honig und Marmor., über deren Wellenlinien sich ein durchsichtig blauer Himmel legte. So oft hatte meine Jugend sich hierher gewünscht; es war erfüllt worden, wenn auch auf traurige Weise: und nun hatte ich Bangigkeit im Herzen.
Grabet, ihr kindlichen Menschen, durchwühlet die Decke der Erde, um an einer zerbrochenen, verstümmelten Statue, die ihr zu Tage fördert, eine sonderbare Freude und einen erkünstelten Enthusiasmus zu entzünden: wo ich Trümmer sehe, da erblicke ich einen zerschlagenen Gedanken, eine guillotinirte Idee, ich sehe ein menschliches Herz in dem Gestein zu Tode zucken, einen Geist seinen letzten Seufzer stöhnen; ich sehe die Seele des Meisters in sein Werk gebannt, wie sie, in den Fesseln eines Scheintodes, alle ihre edlen Theile sich entrissen fühlet, und nicht um Hülfe, nicht wehe! rufen kann.
Die Sonne schien hell und heiß hernieder: dennoch sah meine aufgeregte Einbildungskraft viele Schatten. Hereindrang die Fluth des athenischen Volkes, mit ihrem ewigen Gemurmel; sie saßen, standen, lagen um den Rednerstand; hervordrang ein begeisterter Sprecher, mit beflügelten Lippen; DemosthenesBerühmter athenischer Staatsmann und Redner (384-322 v. Chr.), bekannt für seine Reden gegen König Philipp II. von Makedonien. donnerte gegen PhilipposPhilipp II. von Makedonien (382-336 v. Chr.), Vater Alexanders des Großen, der die griechischen Stadtstaaten unterwarf. und streckte drohend die Rechte gen Norden. Dann schwirrte mit schwarzem Gefieder die Zeit über ihre Häupter hin, und schlug in helles Hohnlachen auf, und sie versanken allesammt, Hörer und Sprecher, in die Tiefe.
Die Säulenschafte ringsum, die liegenden und stehenden und halbgesunkenen, sahen mich traurend an, und sprachen: „das haben wir Alles auch gesehen, und Vieles mehr; sie haben uns zurückgelassen als Zeugen, aber die Barbaren haben unsre Zunge gelähmt, und die Fremdlinge kommen noch heute, und zerschlagen uns, und tragen uns fort über das Meer, von unserm blauen Himmel in dunkele Zimmer, kindischer Neugier zum Spielwerk!"
Da drängte es mich, sie zu beruhigen. Ich sprach: "Klaget nicht. Sehet, ich bin eine lebende Ruine eines Volkes, und ihr seid nur todte. Ich kann reden, und was hilft es? Euch holet man, und mich verjagt man. Hier stehe ich, ein Jude, auf den Trümmern der Hellenen, Trümmer auf Trümmern. Wisset ihr noch, wie Grieche und Jude sich kennen lernten? Ihr werdet davon gehört haben. Wir waren zuvorkommend und freundlich, wie nie gegen Fremdlinge. Wir lernten eure Sprache und Sitten, und wurden ihnen zugesinnt. Aber JavanHebräischer Name für Griechenland, abgeleitet von Jawan, Sohn Japhets in der biblischen Völkertafel. kam mit dem Schwerte des Unterdrückers, und zerschnitt unsern Vorhang, entheiligte unser Heiligthum, schändete unsere Jungfrauen, und zündete den Scheiterhaufen für unsre Wittwen und Kinder. Da flammte das alte Feuer Juda's, des Löwen, in uns auf, und wir wiesen euch wacker aus unsern Gauen. Da rangen wir miteinander fortwährend, bis — wir beide Sklaven wurden. Seit dem bluten unsere Wunden, ihr aber seid todt und stumm."
Da vergaß ich endlich meiner Zuhörer, und sprach in mich hinein: "Wie? Grieche und Jude sind auferstanden. Er aber ist sich untreu geworden, wir sind uns treu geblieben. Der Grieche ist längst nicht mehr Hellene. Mit allen Horden hat er sich vermengt. Hunnen und Afrikaner, Gothen und Syrer, Römer und Germanen, Asiaten und Kreuzfahrer haben einen Bastard aus ihm gemacht, dem, statt Gesinnung und Geisteskraft, nur eine verkümmerte Sprache von seinen hohen Vordern sich vererbte. Der Jude ist aber Jude geblieben; obgleich in aller Welt, blieb er außer aller Welt. Hatte er keine Empfindung für die Reize der Welt? kein Gefühl für die Pracht und die Ehren der Welt? Wogte es in seinen Jünglingen nicht, sich zu stürzen in den Rausch des Lebens, und dessen ganzen Kelch zu leeren? War die asiatische Glut nicht mit hinüber gewandert unter die Oelbäume Granada'sStadt in Andalusien, Südspanien, die vom 8. bis zum 15. Jahrhundert unter maurischer Herrschaft stand und ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur war., unter die Trauben des Vesuv'sVulkan in der Nähe von Neapel, Italien., unter die Eichen Deutschlands? Dennoch blieb Alles nüchtern an ihnen und keusch, und sie bückten sich tief, und trugen die schwerste Bürde der Schmach — um sich zu wahren! um sich ihre Väter, und ihren Vätern ihre Enkel zu wahren — Knechte von außen, Helden im Innern, Helden in Knechtesgestalt!"
"Aber der Jude und der Grieche ist auferstanden. Der Jude im Reiche des Geistes, der Grieche im Reiche der Welt. Aber der Jude ist auch da Jude geblieben, was ist aber der Grieche? Sind seine Väter, ist ihr Leben, ihr Glauben, ja nur ihre Kunst mit ihm auferstanden? Es ist nur der Name, der mit ihm auferstand — aber mit dem Juden im Reiche des Geistes sind immer noch seine Väter, und sein Glauben wieder auferstanden, und diese sonnen sich an dem Lichte der Neuzeit, und können es wohl vertragen. Darum — wandte ich mich wieder zu den Säulen — sind wir zwar kein jüdisches Volk, aber doch Juden, und ihr, griechische Trümmer, bleibet liegen, obschon der Grieche auferstanden!"
Da hörte ich in der Nähe scharren und graben, den Klang der Schaufel und Hacke. Ich wandte mich um, und erblickte einige Deutsche, BaiernEinwohner Bayerns. Unter König Ludwig I. war Bayern in den 1830er Jahren an archäologischen Ausgrabungen in Griechenland beteiligt., welche eine Nachgrabung veranstalteten. Ich gesellte mich zu ihnen, und wir ergötzten uns, unter dem griechischen Himmel in den Tönen der theuern Muttersprache uns zu ergehen und des fernen Vaterlands zu gedenken. Sie förderten mancherlei zu Tage, Stücke von Basreliefs, einige Götterarme und — Beine, endlich einen kleinen, aber schönen Torso. Ihre Mühe war reichlich belohnt. Die Schaufel schlug aber hohl an, als man den Torso heraufschaffte, und darum ward sie eilig wieder zur Hand genommen. Plötzlich fuhr ein Freudengeschrei auf, denn ein eisernes Kästchen erhob sich aus der Tiefe. Ein Schatz, ein Schatz! — Aber das Kästchen war leicht. Der Deckel sprang auf; und in dem Schooße des Kästchens lag eine einfache Pergamentrolle.
Ein Manuskript — ich trat heran, denn die Schatzgräber waren einfache, unwissende Leute. Sie fanden sich sehr getäuscht, denn sie sahen, es waren nicht einmal griechische Schriftzüge. Sie überließen sie mir bald für ein gutes Trinkgeld. Ich trug den Schatz nach Hause — ich hatte es wol erkannt, es waren Charaktere jener heiligen Sprache, in der der Herr zu Israel gesprochen — noch einmal eine jüdische Ruine unter den Hellenischen!
Mochte das festverschlossene Behältniß, mochte der trockne, feste Boden die Ursache sein, das Pergament rollte sich leicht auf, die Dieten waren wohl erhalten, nur hier und da ein Wort erloschen. Ich las mit Begierde, mit Herzklopfen, ich las bis in die Stille der Nacht hinein. Und was war der Inhalt? Es war eine Geschichte voller Leiden aus der Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, aber von kräftigem Geiste durchweht, und in die tiefen Farben jüdischen Lebens getaucht. Ich will nichts mehr vorausnehmen, ich will sie euch noch erzählen, ganz und gar, soweit der kühle Ausdruck der Neuzeit der Gluthsprache des alten Juden noch folgen kann ....