…. Ich bin der Mann, der das Elend gesehen, unter der Ruthe seines Grimmes. Er hat mich getrieben und geführt in Finsterniß, und nicht in Licht. Er mauerte mich ein, daß ich nicht hinaus kann, belastete mich mit Ketten.... Schwinge nur deine Geißel, Römerknecht, hänge schwerere Fesseln an den Leib des Gefangenen, daß er rasselt, wie das ungezähmte Thier im Käficht, wenn es hungert; spei ihm ins Angesicht, und stoß ihm das Kinn wund, daß er aufschaue. Niemals wird der Tag der Rache kommen, der Tag der Vergeltung, und dein Trotz bleibt ungeahndet. Du gehst sicher umher, und jubelst, und dein Jubeln wird nie werden zum Schrei des Gestraften. Siehe! der Gefangene ballet nicht einmal heimlich die Faust wider dich, er läßt die Finger hängen, denn er kennt die Wuth nicht — wer das Elend gesehen, wie er, der ballt die Faust nicht: könnt' er die Faust ballen, würd' er sterben. Und wozu ließ er sich denn fangen? — —
Mein Bruder hat sich in's Schwert gestürzt, meine ältere Schwester in die Flamme. Als die Ströme des Blutes, die von ZijonZion (hebr. Tziyon), ein Hügel in Jerusalem, der oft als Symbol für die Stadt selbst oder den jüdischen Tempel verwendet wird. flossen, uns in der Höhle, die uns verborgen hielt, beinah ertränkten: stürzte mein Bruder sich in das Schwert, die rothen Wellen zu mehren seinerseits. Als die Flammen, die von MorijaDer Tempelberg in Jerusalem, auf dem der Erste und der Zweite Tempel standen. troffen, uns in der Höhle schon erstickten, warf meine Schwester sich in die Feuer, damit sie lustig flackerten auch ihrerseits. Ich aber trat hinaus und ließ mich fangen, denn ich wollte sehen, was da noch werden würde? Ich hatte noch eine Frage an den Gott Israels: was wohl noch werden würde? Und diese wollt' ich gelöst haben. — Die Säulen sind gebrochen in meinem Innern, die Zinnen meines Geistes sind hineingefallen in die Vorhöfe meiner Seele, geschmolzen sind alle goldenen Fenster meines Herzens. Aber auch die Flammen sind erloschen, und die Blutströme versiegt und vertrocknet. Ein Kind könnte mich leiten am Seil ungefährdet. Ich schaue mich als einen Andern, ich seh mich wandeln und schreiten als einen Zweiten, als hätte ich nur noch die Frage an mich; was wird ihm nun werden, dem Gefangenen? — —
Wenn mich der Kerkermeister schlägt, lächle ich nicht einmal; wenn der Gefangenwärter mich anspeit, fühl ich kein Lispeln des Hohns; wenn die Stachel des Aufsehers meine Hand trifft, flüstert der Spott nicht ein Wörtchen mir zu. O glücklich, wer verzweifeln könnte! dreimal glücklich, in wessen Herz die Wuth aufspringt wie ein Löwe aus dem Dickicht, und mit furchtbarer Tatze sich und den Nächsten mit Verderben schlägt! Tönt ein Seufzer von meiner Lippe, so ist es der, daß ich nicht verzweifeln kann — —
So stehst du vor mir, brennendes Jerusalem, wälzest dich zu meinen Füßen, sterbendes Israel, und mein Herz zucket nicht dabei. Ich höre das Zischen der Flammen, wie sie aus dem AllerheiligstenDer innerste und heiligste Raum des jüdischen Tempels in Jerusalem, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde. dringen, ich höre das Poltern der Altäre, wie sie in einander stürzen, ich höre das Rauschen der Metalle, wie sie hinunterfließen vom goldenen Leuchter; die Priester seh' ich die silbernen Stühle auf die Köpfe der Feinde werfen, und sich in die Flammen, die Jungfrauen die Dolche in den Leibern der Römer drehen, und dann in den ihrigen; ich sehe dein hohes Haupt, EleazarVermutlich Eleazar ben Jair, der Anführer der jüdischen Zeloten in der Festung Masada während des Jüdischen Krieges gegen Rom (66-73 n. Chr.)., auf der Spitze eines Römerschwertes, den Arm meines Vaters, auf einer Egypterlanze, den Busen meiner Mutter von einem kretischen Pfeil durchbohrt, und es ist still in meiner Seele. Meine MariamneEin traditioneller jüdischer Frauenname; möglicherweise eine Anspielung auf Mariamne I., die zweite Frau von Herodes dem Großen. fällt unter den Streichen des Syrers, er reißt meinen Säugling von ihrer Brust und schleudert ihn an die Felswand, daß die zarten Glieder umhersprühen, und es schweigt in mir. Gräßliche Bilder, die den Wahnsinn heraufbeschwören über die zerschmetterte Seele, warum ziehet ihr vor mir vorüber, ich schaue euch, und bleibe? — —
Hohnlächelnd schlingt der Römer die Bande um meine Arme, ich, der Sohn des Fürsten JojadaEin biblischer Name; in der hebräischen Bibel war Jojada ein Hohepriester während der Herrschaft von König Joasch., fühle den Fußtritt des griechischen Knechts; ich trete vor den schwermüthigen TitusTitus Flavius Vespasianus (39-81 n. Chr.), römischer Kaiser und Feldherr, der Jerusalem 70 n. Chr. eroberte und den Zweiten Tempel zerstörte., und er wendet mir den Rücken; ich werde hingeführt auf den XystusEin öffentlicher Platz oder Säulengang in Jerusalem, wo öffentliche Versammlungen stattfanden., wo wir als Knaben die Spiele der Jugend gefeiert, dort ist das blutige Gericht, und tausende meiner Genossen fallen unter dem Henkerbeil des mordbegierigen Römers; auch dein lockiges Haupt seh' ich fallen, mein Jugendfreund ChannanelEin hebräischer Name, der "Gott war gnädig" bedeutet., auch deine ehrwürdigen Locken röthen sich dort mit deinem Blute, mein Lehrer SchammaiEin berühmter jüdischer Gelehrter und Gesetzeslehrer der Zeitenwende, bekannt für seine strenge Interpretation der Tora., und dein SchemaDas "Schma Israel" (Höre, Israel), das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, das täglich rezitiert wird. wohnt noch auf den erblichenen Lippen des getrennten Hauptes; aber der Arm der Henker ermüdet vom Tödten, und ich bleibe übrig mit Wenigen. In dem Kerker finde ich mich wieder, die Luft ist verpestet von dem Athmen der Tausenden, die er umschließt; zweimal drei Tage benetzt kein Tropfen unsre Lippen, berührt keine Speise unsern Mund, und da ich den Nachbar fasse, ist er, wie Hunderte, zur Leiche verschmachtet. Endlich öffnet sich das Thor des Gefängnisses, wir werden geführt zu den Quellen des SiloahEine Quelle außerhalb der Stadtmauern Jerusalems, die mit einem Tunnel mit der Stadt verbunden war., dort sind die Sklavenhändler versammelt, aber die Beutel sind bald leer, und unsre Zahl kaum vermindert: um ein Schwert zwei Jünglinge, um einen ModusEin römisches Hohlmaß für Getreide, etwa 8,75 Liter. Gerste drei Jungfrauen, und ich der Sohn des Fürsten Jojada, ich, ein Sprößling aus SaulsDer erste König Israels (ca. 1030-1010 v. Chr.), aus dem Stamm Benjamin., des Königs von Israel, Geschlecht, ich, der kräftige Jüngling in der Blüthe des Lebens, werde erhandelt um einen Kuchen aus Weizen — —
O, ihr Städte Judäas, ihr hohe Burgen und offene Flecken, die ich einst auf kühnem Rosse im goldenen Panzer durchzogen, ich sah eure Aschenhaufen, zog euren Trümmern vorüber, und meine Fesseln drückten mich nicht, mein Sklavengewand schämte sich nicht; da ich euch erblickte niedergeworfen und die Säulen des Rauches noch wirbeln aus euren Brandstätten, wie konnte ich Wehe! rufen über meine wunden Füße? — Da erhob sich ein rother Brand am östlichen Himmel, der eherne Himmel schrumpfte vor einem Rande grauer Wolken ringsum zusammen und verfalbte in giftiges Gelb, ein Schwefelgeruch drang durch die stillgestandne Luft, die Wüste erhob sich in schwellenden Sandwogen — der SamumEin heißer, trockener Wüstenwind, der in Nordafrika und im Nahen Osten vorkommt und oft Sandstürme mit sich bringt.! schrie der Haufe, der Samum! Sklavenhändler und Sklaven, der Samum! Römer und Jude — die Thiere wälzten sich auf dem Boden, die Ketten rasselten, und Alles warf sich zur glühenden Erde — nur ich stand aufrecht, und sah den niedergeworfenen Knäuel, und sah hinein in das Ungethüm, das vom Morgen einherfuhr auf seinem Riesenwagen. Ich wollte nicht sterben, aber den Tod kommen lassen, wenn er wollte. Der heiße Sandregen sprühte nieder, und versengte mein Haar, der Sack, der meine Glieder verhüllte, fiel in Stücken verbrannt herunter, Berge wälzten sich auf meine Brust, das Herz schlug mir bis an die Kehle, ich wollte nicht stehen und nicht fallen, ich wollte es geschehen lassen, da brachen die Knieen zusammen von selbst, ich sank nieder, und der Sturm fuhr darüber hinweg, ich wußte es nicht mehr. — Peitschenhiebe weckten mich aus dem Schlummer der Seele, wir zogen nach DamaskosDie Hauptstadt Syriens, eine der ältesten durchgehend bewohnten Städte der Welt.. — —
Gränze Israels, wie überschritt ich dich? Mein Fuß zögerte nicht, meine Gebeine schmiegten sich nicht an deinen letzten Felsen, nur mit Gewalt losgerissen zu werden — ich überschritt dich, wie man die Schwelle des Zimmers überschreitet, in ein anderes zu gelangen. Die Welt war mein Haus worden, und vor den Schatten der Seele sah das Auge Nichts, nicht das Alte schwinden, nicht das Neue kommen. Ich schritt und schritt. Kaum schlug das Hohngeschrei des Syrers an mein Ohr, da wir durch Damaskos' Thore zogen; wenn der Spottgesang bis zu den Wolken drang, ich vernahm ihn kaum; ein syrisches Mädchen nahm Kieseln und röthlichen Sand aus dem Bette des ChrysorrhoasDer antike griechische Name für den Fluss Barada, der durch Damaskus fließt. Der Name bedeutet "Goldfließer". und warf sie auf mein Haupt, es schüttelte sich, und sie glitten herunter; Knaben umschwirrten uns, und schossen Bolzen nach meinem Rücken, ich regte mich nicht. Ich fühlte das GehinnomDas hebräische Wort für Hölle, abgeleitet vom Tal Hinnom bei Jerusalem, wo in vorbiblischer Zeit Kinderopfer dargebracht wurden. nicht in Deinem Eden, Damaskos, und nach den Aepfeln des Lebensbaumes hätt' ich die Hand nicht erhoben. An den Mauern von AradosEine antike phönizische Inselstadt im Mittelmeer, heute Arwad in Syrien. sah uns das Meer. Mancher glitt heimlich herab vom steilen Ufer, und verschwand schweigend in der Brandung, ich ging vorüber. So nahmst du mich auf vierstädtige AntiocheiaAntiochia am Orontes, eine bedeutende hellenistische Stadt im antiken Syrien, heute in der Türkei gelegen. Die "Vierstädtige" bezieht sich auf ihre Gründung als Zusammenschluss von vier Stadtteilen., nahmst mich auf in deine weiten Mauern, als Syrersklave. Deine Thore waren geschmückt mit Lorbeergewinden, als ich einzog, unsern Siegern zur Ehre, die Marmorplatten deiner Straßen, die HerodesHerodes der Große (ca. 73-4 v. Chr.), König von Judäa unter römischer Herrschaft, bekannt für seine umfangreichen Bauprojekte. gelegt, mit Rosen bestreut, uns galten die Dornen; zum Pallast des ProkonsulsRömischer Statthalter einer Provinz des Reiches. wurden wir getrieben, die gaffende Menge warf Pechkränze um unsre Schultern, ich ließ sie liegen. Da trat er hervor der weingeröthete Römer und las sich aus, die ihm gefielen: ich war darunter. Ha, er erkannte mich. "Amnon, rief er, Jojada's Sohn, bist du's? denkst du noch, wie wir kämpften und rangen am Fuße der AntoniaEine Festung in Jerusalem, benannt nach Marcus Antonius, die an den Tempelberg angrenzte. vor einigen Jahren? Ich hatte eine Dirne deines verfluchten Geschlechts mir erkieset, und du entrissest sie mir. Zitterst du?" Ein Blitz durchfuhr meine Brust. Schon wollt ich jubeln, daß die Geister wieder erwachten in meiner Seele, daß das versteinte Herz wieder zu zucken beginne. Aber es war schnell vorüber, und öde wie vorher. "Ich werde dich wiedersehen!" rief er mir zu, und stieß mich in die Reihe derer, die zum Kampfspiel, zum Kampf mit den gefangenen Thieren der Wüste bestimmt waren.
Man zieht mich durch weite Höfe des Pallastes, man schleppt mich durch finstre Gänge. Da brüllt der Löwe in seinem Käficht, der Panther heult gegen die Stangen seines Gitters, und neben diesen ist — meine Kammer. Wir sind Nachbaren. Löwe von TadmorDer alte semitische Name für Palmyra, eine antike Stadt in Syrien., gelagert neben dem Löwen von Juda, da wir uns begegneten in den Steppen Arabiens, und mein funkelnder Speer sich grub in deine Weichen, mein blitzendes Schwert dir die Tatze ablöste, jetzt sind wir beide des Römers Sklaven, und harren seines Winks, uns zu zerfleischen zu seiner Augenweide. Es ist nur ein eisernes Stangennetz, das uns von einander trennt. Oft stehen wir uns gegenüber, und dein großes Auge staunt, daß sich sein Blick in den eines Menschen versenkt. Was schaut dir entgegen aus meinem thränenlosen Apfel? Deinen Grimm erregt es nicht, und deinen Abscheu, aber auch nicht Liebe und Mitleidenschaft. Du wendest dich spielend ab, gehst scheu zur Seite: du hast dem Tode in's Auge geschaut — nicht jenem Tode, der mit dem fröhlichen Muthe des Kampfgewühls naht, und in die kühn geschwellte Brust den Stachel senkt, dem Tode, der furcht- und gefühllos eintritt in ein stilles Gräberfeld, und dem getödteten Geiste geräuschlos den Leib nachsendet.
Oft nehm' ich, wenn du vor Hunger brüllst und an das Eisen schlägst, daß es wankt, einen Theil meiner kärglichen Nahrung und werfe sie durch die Oeffnungen. Aber du verschmähst sie von mir und läss'st sie liegen — —willst von dem gefangenen Juden Nichts; denn du bist noch Löwe. Noch wenige Tage, und wir stehen uns draußen gegenüber. Meinst du, ich werde kämpfen mit dir? Scheue dich nicht. Wie ich stand vor dem Samum, werde ich stehen vor dir, bis du reißest das Haupt vom Rumpfe, und die Knien zusammenbrechen von selbst. Ich will ja nur sehen: was noch werden wird?.....