Ein heller Morgen stehet über der Erde, da ich das römische Kriegsschiff betrete, welches mich im Gefolge des Cäsars nach AlexandrienAlexandria, eine bedeutende Stadt in Ägypten, die von Alexander dem Großen gegründet wurde. bringen soll, und von da aus nach der Herrscherin der Welt, nach Rom. In zahlloser Menge sind die Schiffe versammelt, die in ihrem Schooße die Trümmer Juda's bergen, den goldenen LeuchterDie Menora, der siebenarmige Leuchter aus dem Jerusalemer Tempel., den Tisch der SchaubrodeEin heiliges Gerät aus dem Tempel, auf dem die "Schaubrote" (besondere Opferbrote) dargebracht wurden., GesetzrollenTorarollen, die die fünf Bücher Moses enthalten. und unzählige Kostbarkeiten, daß der römische Pöbel sein lüsternes Auge daran weide, und seine Knechtschaft vergesse vor dem Glanze seiner Herrscher. — Die Morgensonne überschüttet mit ihren Strahlen die ehernen Schnäbel der Schiffe, und glänzt silbern von den Wellen zurück, welche die Ruder schlagen. Ein frischer Wind schwellt die kurzen Segel, und kräuselt das Meer. Aber nicht lange, so geleitet man mich hinab in den Bauch des Schiffes, und schließt mich mit Fesseln in eine enge Kammer. Eine vergitterte Luke gestattet mir noch die Aussicht auf die nahe Küste, der das Schiff enteilt.
So stehe ich aufrecht, wenn auch von den Fesseln gedrückt, gelehnt an die Schiffswand, die mich von den Wogen des Meeres trennt, und schaue hinaus. Hat man mir diese Fernsicht gestattet, daß ich Abschied nehme von dir, theures Heimathsland? daß ich dir Lebewohl sage, Land meiner Freuden und Schmerzen? Schon legt sich der Nebel um die zurückweichenden Ufer, das Einzelne verschwindet, und nur als weiter Kranz um das Gewässer bist du sichtbar. Jetzt erst trenne ich mich von dir, Gebirge Juda'sDas Bergland Judäa in Palästina., jetzt erst verlasse ich Dich, thauiger HermonEin Gebirgsmassiv an der Grenze zwischen Syrien und Libanon., Dich, JordanDer Hauptfluss Palästinas, der durch den See Genezareth fließt und ins Tote Meer mündet., und Dich, murmelnde Quelle des SiloahEine Quelle in Jerusalem, die in biblischen Zeiten als heilig galt.. Jetzt erst bist du mir entrückt, Wüste von JerichoEine der ältesten Städte der Welt, in der Nähe des Toten Meeres gelegen., und ihr, schattige Haine HebronsEine der ältesten Städte Palästinas, südlich von Jerusalem gelegen.. Jetzt erst fühle ich, daß ich fern von euch bin, und mein Auge euch nie wieder sehen wird. Ich bin verlassen, verlassen von Vater und Mutter, Geschwistern und Freunden, ihr aber seid noch mehr verlassen. Dies Schweigen der Wüste hat sich über euch gelegt, der Tod eines Volkes hat sein Leichentuch über euch gebreitet: wann werdet ihr wieder erwachen? Rasttag habet ihr für die RuhetageDer Sabbat, der wöchentliche Ruhetag im Judentum., die nicht gehalten worden, BrachjahreIm jüdischen Gesetz das siebte Jahr, in dem das Land nicht bestellt werden durfte. mehr denn alle JobeljahreDas 50. Jahr nach sieben Sabbatjahreszyklen, in dem Schulden erlassen wurden und Grundbesitz an die ursprünglichen Eigentümer zurückfiel. Israels, keine Pflugschaar durchfurcht, keine Hacke zerschneidet euren Boden, und die spärliche Pflanze, die ihr hervorruft, sprießt nicht einmal für das Gewild des Feldes, das sie verschmäht. Wo hast du hingethan deine Bewohner? Wo hast du gelassen das Volk des Herrn? du hast es verrathen an IschmaelBiblischer Name, der hier für die Araber steht. und EsauBiblischer Name, der hier für die Römer oder Christen steht., an AramBiblischer Name für Syrien und die umliegenden Gebiete. und JavonHebräischer Name für Griechenland bzw. die Griechen. — darum wandeln keine Propheten mehr auf dir, keine Feste werden dir gefeiert, keine Pilgergesänge angestimmt, und das Wort des göttlichen Gesetzes hörst du nicht mehr. Meinest du, daß darum der Kampf zu Ende ist? meinest du, daß du genug Blut getrunken, weil du das Blut deiner eigenen Kinder lechzend aufgefangen? da du Keinem gehörst, wirst du Allen gehören, Alle werden um dich werben mit dem Schwerte, und dein Staub wird ihre zerfleischten Leiber empfangen. Um die heiligen Spuren, die dir eingedrückt sind, wird der Kampf beginnen, um die Trümmer, die du trägst, wird Schlachtgedröhne entstehen, und die Schatten derer, die du begraben, werden den Schall der Kriegsdrommete immer von Neuem heranbringen!
Lebet wohl, ruft ich hinaus, ihr Gräber, lebet wohl, Begrabene und Unbegrabene, Glieder meines zerschmetterten Säuglings, du todter Leib meiner Marianne, JejadaDer Vater des Erzählers. mit deinem Weibe und deinen Kindern, ruhet wie Wächter um den großen Leichnam Jerusalems, um dessen zerschelltes Haupt, den Aschenhaufen des Tempels. Euer Volk ist ausgewandert als Sklave, und kommt nicht wieder; Eure Fürsten schreiten in Ketten vor dem Triumphwagen Eures Zerstörers. Wollt ihr fragen nach den Euren, erhebet eure Stimme laut, daß sie sie vernehmen, rufet bis an die vier Ecken der Erde, bis an das Ende des Himmels, dann werden sie sie vernehmen. Warum habt ihr uns gehen lassen? warum nicht bei euch behalten? Nun kommen wir nicht wieder, wir waren denn um den Rand der Erde gewandelt. Aber ihr habt uns mitgegeben euer Angedenken und euren Namen, und das ist eine schwere Last. Denn man wird uns sagen, wir röchen nach Leichen, und sähen nach Trümmern aus....
Lebet auch ihr wohl, MaesejaDer Ethnarch (Vorsteher) der jüdischen Gemeinde in Antiochia und Vater von Schulamith. und SchulamithDie Tochter Maesejas, die dem Erzähler half und ihm nahestand., letzte Strahlen meiner Lebenssonne. Habet ihr euren Todten gebettet in den Schooß der Erde, den ihm kein Syrer streitig macht? Habt ihr den Wanderstab ergriffen, der euch frei mache vom Boden der Unfreiheit? Auch euch werde ich nicht Wiedersehen....
Das Schiff macht eine Wendung, und nur das unermeßliche Meer liegt noch vor mir. Ich werfe mich nieder auf die harten Planken des Schiffes. Ich will den doppelten Himmel nicht sehen, droben und im Meere, da ich keinen habe in mir und um mich!